Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat die globale Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur erschüttert und das ohnehin fragile Kräfteverhältnis zwischen den USA, China, Europa und Russland weiter aus dem Lot gebracht. Das in den kommenden Jahren bevorstehende Ringen um eine neue Weltordnung hat sich 2022 in fundamentalen Weichenstellungen angekündigt: In Deutschland steht die von Bundeskanzler Scholz wenige Tage nach Kriegsausbruch ausgerufene Zeitenwende für eine Zäsur in der Außen- und Sicherheitspolitik des Landes. Die Europäische Union hat mit ihrer neuen sicherheitspolitischen Grundsatzstrategie den Weg in Richtung einer Militärunion eingeschlagen. Vor dem Hintergrund einer deutlich gestiegenen Bedeutung der NATO hat das wiedererstarkte transatlantische Bündnis seine größte strategische Neuaufstellung seit dem Kalten Krieg vollzogen. Mit all diesen Entwicklungen sind umfassende industriepolitische Implikationen verbunden. HENSOLDT-CEO Thomas Müller, seit mehr als 30 Jahren in der Verteidigungsindustrie tätig, äußert sich in diesem Interview zu den aktuellen geopolitischen Umwälzungen, ihren Auswirkungen auf HENSOLDT und der Frage, wie die technologische Basis für den europäischen Wunsch nach stärkerer strategischer Autonomie entsteht.
Herr Müller, welche Folgen hat der Krieg Russlands gegen die Ukraine auf die globale Sicherheitsordnung? Wie bewerten Sie die aktuelle geopolitische Lage?
Der russische Krieg bedeutet ganz klar einen Epochenwechsel. Er hat fundamentale und langfristige Auswirkungen auf die weltweite Sicherheitsarchitektur, da Russland unmissverständlich die Systemfrage gestellt hat. Es geht akuter denn je darum, welche Regeln in Zukunft für den Umgang von Staaten untereinander gelten – das Recht des Stärkeren oder die Stärke des Rechts. Das ist der Kern der systemischen Konkurrenz, die wir immer deutlicher sehen zwischen den liberalen Demokratien auf der einen Seite sowie autoritären und diktatorischen Regimen. Gerade das Streben Chinas, eine Supermacht zu werden, destabilisiert die globale Ordnung erheblich. Ich teile deshalb die Einschätzung vieler Experten, dass wir absehbar auf eine anhaltende, diffuse Konfliktordnung zusteuern, in der selbst dann, wenn die Waffen schweigen, kein wirklicher Frieden herrscht. Wir sind also auf absehbare Zeit in unserer Wachsamkeit gefordert wie selten zuvor.
Wo sind derzeit die größten Brennpunkte außerhalb der Ukraine?
Natürlich blickt die Welt vor allem nach Taiwan und das Südchinesische Meer. Auch wenn sich die Befürchtungen einer unmittelbaren Eskalation nicht bewahrheitet haben, ändert das nichts an der Tatsache, dass China seine Interessen sehr langfristig verfolgt und das Verhältnis zu China die zentrale geopolitische Machtfrage ist. Daneben erleben wir sehr unmittelbare, greifbare Folgewirkungen des Kriegs gegen die Ukraine, wenn die empfundene russische Schwäche Konflikte in früheren Einflussgebieten aufflammen lässt wie etwa in Kasachstan oder zwischen Kirgistan und Tadschikistan. Oder wenn energiepolitisch starke Staaten wie Aserbaidschan ihre neue Einflussmacht ausnutzen, um Druck auszuüben. Aber auch direkt vor unserer Haustür birgt der Krieg enormes Konfliktpotenzial für unsere westlichen Demokratien, wenn die Energiekrise, die Inflation und damit die Frage nach dem künftigen Lebensstandard die Unzufriedenheit mit demokratischen Institutionen weiter befeuern und möglicherweise extremistische Parteien bis in die Regierungsverantwortung bringen. Das Ausmaß an Instabilität, mit dem wir es derzeit global zu tun haben, ist enorm. Und da sprechen wir noch gar nicht von den vielen asymmetrischen Konflikten, die in den vergangenen Jahren vor allem in Afrika und im Nahen Osten entstanden sind und natürlich nicht enden, nur weil neue, größere Krisen im öffentlichen Fokus stehen.
Was sind die militärischen und technologischen Lehren aus dem Krieg gegen die Ukraine?
Häufig wird dieser brutale Überfall als eine Renaissance des konventionellen Kriegs beschrieben. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Es kommen in der Ukraine tatsächlich überholt geglaubte klassische Kriegsmethoden zum Einsatz. Vor allem aber zeigt sich die enorme Bedeutung von digitalisierten Waffensystemen, von datengetriebener Informationsüberlegenheit und elektronischer Kampfführung. Denn mit diesen modernen Technologien kann sich die Ukraine gegen einen rein zahlenmäßig überlegenen Gegner erfolgreich zur Wehr setzen. Auf der anderen Seite finden auch Angriffe auf kritische zivile Infrastrukturen und gesellschaftliches Vertrauen immer mehr im digitalen Raum statt – durch Cyberattacken und Desinformationskampagnen.
Wie sollte der Westen künftig auf die neue geopolitische Realität reagieren?
Geschlossenheit und Entschlossenheit sind weiterhin das Gebot der Stunde. Wie eng die westliche Staatengemeinschaft seit dem 24. Februar 2022 zusammengestanden ist, hat viele überrascht. Das muss uns auch dann gelingen, wenn der Preis des Kriegs für uns selbst immer spürbarer wird – so hart das ist. Russland führt einen Angriffskrieg mit atomarer Drohkulisse und darf damit keinen Erfolg haben. Auch deshalb liegt die Unterstützung der Ukraine in unserem ureigenen Interesse und bedeutet eine große Verantwortung für Deutschland und Europa. Wir bei HENSOLDT leisten mit unseren Hochleistungsradaren für die Luftverteidigung und Artilleriedetektion der Ukraine einen Beitrag. Ein zweiter zentraler Aspekt ist gerade für uns in Europa, weiteren Fortschritt bei der Zusammenarbeit im Verteidigungssektor zu erreichen, auf politischer und industrieller Ebene. Denn mit dem Krieg ist Sicherheit wieder zur zentralen Staatsaufgabe geworden. Dieser Aufgabe können wir nur im Schulterschluss als ein starkes Europa gerecht werden. Und wir müssen drittens Verteidigung und Sicherheit umfassender denken, als wir es in der Vergangenheit gewohnt waren. Heute geht es um gesamthafte Resilienz, von militärischer Verteidigung bis zur Frage, wie robust das digitale Kassensystem im Supermarkt ist. Für unsere Widerstandsfähigkeit als Volkswirtschaft gilt es, Lieferketten auf den Prüfstand zu stellen. Schließlich hat sich mit dem Krieg Russlands auch die Hoffnung erledigt, wirtschaftliche Abhängigkeiten könnten Konflikte verhindern. Heute sehen wir, wie sich China immer stärker abschottet. Umso konsequenter müssen wir als Europa an unserer technologischen Souveränität – gerade im digitalen Bereich – arbeiten.
Was bedeutet dieser Dreiklang für die deutsche Außen- und Verteidigungspolitik?
Elementar ist, dass sich auch hierzulande immer mehr durchsetzt, was unsere Partner schon viel selbstverständlicher voraussetzen: Nämlich die Erkenntnis, dass Deutschland eine natürliche Führungsrolle in Europa zufällt – allein schon durch unsere geografische Lage, Bevölkerungsgröße und Wirtschaftskraft. Diese Aufgabe müssen wir annehmen und aktiv wahrnehmen als ein Stabilitätsanker, der Verantwortung in Europa übernimmt. Dabei sollten wir unser Gewicht vor allem als vereinender Akteur nutzen für gemeinsame Positionen in der EU, aber auch mit den USA. Und wir sollten ehrlich zu uns selbst sein und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, was den Umgang mit autoritären Staaten und unserer eigenen Verteidigungsfähigkeit betrifft. Die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen, können wir uns nicht mehr erlauben.
Wie erleben Sie als CEO eines führenden Technologieunternehmens die sicherheitspolitische Zeitenwende? Welches Zwischenfazit ziehen Sie nach einem Jahr?
Das Sondervermögen Bundeswehr ist ein wichtiger Schritt, um kritische Lücken zu füllen und gerade für große Innovationsprojekte Planungssicherheit zu schaffen. Wir sollten diesen Schritt auch nicht kleinreden. Gleichzeitig müssen den Worten natürlich weitere Taten folgen: Es braucht eine nachhaltige Erhöhung des Verteidigungshaushalts, um die Bundeswehr zu einer zukunftsfähigen Armee zu entwickeln. Ansonsten ist das Sondervermögen schnell verpufft. In der Umsetzung bedeutet die Zeitenwende einen gemeinsamen Kraftakt, denn glaubhafte militärische Abschreckung beruht auf drei Säulen: dem politischen Willen, gut ausgerüsteten Streitkräften und einer leistungsfähigen Verteidigungsindustrie. HENSOLDT als Technologieführer und strategischer Partner der Bundesregierung ist exzellent vorbereitet, seinen Beitrag zu leisten. Wir sind in den vergangenen Jahren massiv gewachsen, haben unser Team und internationales Produktionsnetzwerk ausgebaut und können heute entscheidend unterstützen. Mir ist es ein Anliegen, dass die Zeitenwende die Fähigkeitsentwicklung und industrielle Basis in Deutschland und Europa stärkt. Dafür müssen wir gemeinsam mit der Politik Sorge tragen, denn naturgemäß haben auch Wettbewerber aus anderen Regionen Europa als Markt neu entdeckt.
Was sind die Voraussetzungen dafür, dass dieser Kraftakt zu einer nachhaltigen Zeitenwende führt?
Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass letztlich die Glaubwürdigkeit Deutschlands und das Vertrauen unserer Partner in uns auf dem Spiel stehen. Und um es klar zu sagen: Auch wir als Industrie werden zu Recht am Erfolg des Sondervermögens gemessen. Gleichzeitig ist bekannt, dass die Beschaffungsprozesse für die Bundeswehr endlich vereinfacht und beschleunigt werden müssen. Was hier möglich ist, haben wir bei der Lieferung unseres deutschen Luftverteidigungssystems in die Ukraine gesehen, als Politik und Industrie in Rekordtempo Vollzug melden konnten. Außerdem brauchen wir viel innovationsfreundlichere Prozesse. Bisher beinhalten viele Ausschreibungen zum Beispiel für den Cyberbereich unnötig enge technologische Vorgaben von politischer Seite, anstatt das Ziel vorzugeben und dem technologischen Pioniergeist Freiraum zu bieten. Über Prozesse und Strukturen lässt sich also schon viel bewegen. Ein Punkt ist für mich aber entscheidend: Dauerhaft gelingen kann die Zeitenwende nur, wenn sie von einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz getragen wird. Neben der Zeitenwende brauchen wir für die Verteidigung auch eine Mentalitätswende. Wir müssen endlich einen ehrlichen Diskurs darüber führen, welche Erwartungen wir an die Bundeswehr stellen und welchen Preis wir dafür als Gesellschaft zu zahlen bereit sind. Das sind wir den Menschen schuldig, die für uns ihr Leben riskieren. An diesem Punkt sind wir aber noch nicht. Wir diskutieren sehr intensiv Panzerlieferungen an die Ukraine, um eine wirkliche Verständigung zur Rolle unserer eigenen Armee machen wir bisher aber einen Bogen.
Und was hat die Industrie zu einer erfolgreichen Zeitenwende beizutragen?
Es liegt auch an uns, ob diese Debatte in der Gesellschaft stattfindet. In der Vergangenheit waren wir zu zurückhaltend, unseren Beitrag für Sicherheit und den Schutz von Demokratie und Freiheit zu erklären. Das ändern wir, beispielsweise mit einer Social-Media-Kampagne, in der regelmäßig unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Wort kommen und darüber sprechen, warum ihre Arbeit den Unterschied für eine sichere Zukunft ausmacht. Und natürlich muss die Verteidigungsindustrie als verlässlicher Partner zuverlässig abliefern. Wir bei HENSOLDT haben bewiesen, dass wir anspruchsvolle Großprojekte diszipliniert managen und zum vereinbarten Termin, Budget und Qualitätsstand umsetzen. Dieser starke Umsetzungsfokus hängt auch mit unserer Geschichte und Aufstellung zusammen. Auf dem Weg in die Eigenständigkeit von HENSOLDT hat die Zusammenarbeit mit KKR als Finanzinvestor unsere unternehmerische Entwicklung enorm professionell vorangetrieben. Heute ist die Verbindung aus den Beteiligungen der Bundesregierung und unternehmerischer Investoren ein Erfolgsmodell.
Wie blicken Sie auf die erste Nationale Sicherheitsstrategie mit der Erwartung einer neuen, verantwortungsvollen Rolle Deutschlands in der Welt?
Es ist ohne Zweifel wichtig, über die unmittelbaren Reaktionen auf den Ukrainekrieg hinaus eine langfristige Strategie zu definieren. Dass dies in dieser Form zum ersten Mal geschieht, spricht für sich und dokumentiert den neuen Stellenwert von Sicherheit und Verteidigung in der deutschen Politik. Ob es dazu führt, dass wir uns als Gesellschaft ernsthaft mit diesen Grundsatzfragen auseinandersetzen, bleibt abzuwarten. Auch die vorausgegangenen Weißbücher haben viele richtige und wichtige Aspekte adressiert, sind aber in dieser Hinsicht weitgehend folgenlos geblieben.
Die NATO hat ihre neue Strategie bereits im Sommer 2022 formuliert: Ist sie zurück im Modus des Kalten Kriegs?
Dieser Blick in den Rückspiegel verkennt die Tragweite der heutigen Herausforderungen. Zwar ist die Bündnisverteidigung wieder Primärzweck der NATO, aber das Krisenmanagement durch Out-of-Area-Einsätze gewinnt weiter an Relevanz. Schließlich wird der systemische Konflikt zwischen dem Westen sowie China und Russland global ausgetragen und findet auch abseits der Bündnisgrenzen statt. Nicht umsonst beschreibt das neue strategische Konzept eine fundamentale Neuausrichtung und Transformation der NATO. Neben der immer entscheidenderen Cyberresilienz steht die Verteidigung des technologischen Vorsprungs in sieben disruptiven Technologien im Fokus – vom Quantencomputing über hypersonische Bedrohungen bis zur weltraumgestützten Kriegsführung. Auch die Auswirkungen des Klimawandels auf die Sicherheitsvorsorge und umgekehrt zählen jetzt zu den Kernaufgaben der NATO. Sie ist wieder voll gefordert und dabei immer nur so stark, wie ihre Mitgliedstaaten sie machen. Der geplante Beitritt Schwedens und Finnlands ist auch deswegen historisch, weil er beide Seiten stärkt.
Welcher Platz bleibt da noch für Europa als sicherheitspolitischen Akteur?
Ich sehe hier keinen Zielkonflikt – im Gegenteil: Das Strategische Konzept sieht eine starke europäische Säule in der NATO vor. Und ich bin überzeugt davon, dass die transatlantische Zusammenarbeit nur dann stabil funktioniert, wenn Europa in den USA nicht als sicherheitspolitischer Kostgänger wahrgenommen werden kann. Die EU muss ihre Sicherheit stärker in die eigene Hand nehmen. Die USA werden sich absehbar mehr auf die indopazifische Region konzentrieren und niemand weiß, was die US-Präsidentschaftswahl 2024 bedeuten wird. Auch deshalb darf strategische Autonomie für uns keine Absichtserklärung bleiben. Und Europa geht in die richtige Richtung: Auf die russische Aggression hat die EU schnell reagiert, starke Sanktionen auf den Weg gebracht und die Ukraine militärisch unterstützt. Mit dem Strategischen Kompass haben wir seit März 2022 erstmals ein sicherheitspolitisches Grundlagendokument, das von allen EU-Staaten angenommen wurde und eine gemeinsame Vision und klare Ziele enthält. Das ist ein großer Schritt für mehr Verbindlichkeit und Handlungsfähigkeit. Dieses Momentum für eine europäische Sicherheitsarchitektur muss jetzt genutzt werden! Politisch muss die deutsch-französische Partnerschaft der starke Motor bleiben. Und wir müssen den europäischen Gedanken auch auf der technologischen Ebene umsetzen – durch koordinierte Beschaffung und Entwicklung, aber auch durch harmonisierte Exportkontrollvorschriften.
Ist schnelle Handlungsfähigkeit heute nicht wichtiger als europäische Kooperation?
Wir müssen beide Ziele erreichen und dürfen sie nicht gegeneinander ausspielen. Schnelle Handlungsfähigkeit folgt europäischer Kooperation unmittelbar. Es wäre extrem kurzsichtig, wenn es durch den aktuellen Handlungsdruck zum Rückfall in einzelstaatliche Egoismen käme. Heute gilt mehr als je zuvor, dass kein EU-Staat in der Lage ist, alle Fähigkeiten für die multiplen Herausforderungen und Szenarien vorzuhalten. Technologische Souveränität und Interoperabilität erreichen wir nur gemeinsam und nicht, wenn jeder für sich handelt und außereuropäisch aus dem Regal kauft. Europäische Kooperation gibt uns auch die Stärke, bei unseren nationalen Schlüsseltechnologien die besten Ergebnisse aus den Fähigkeiten aller Partner herauszuholen. Und natürlich geht es auch um die Verschwendung von Geld. In Zeiten großer volkswirtschaftlicher Belastungen können wir es uns nicht erlauben, weniger als zehn Prozent unserer Investitionen in Rüstung gemeinsam europäisch zu beschaffen.
Wie kann eine engere europäische Kooperation im Verteidigungssektor gelingen?
Auch hier stimmt mich der Strategische Kompass optimistisch. Wir haben gerade im vergangenen Jahr eine Reihe weiterer Entwicklungen gesehen, die in die richtige Richtung weisen, wie etwa die „Joint Defence Procurement Task Force“ als EU-Initiative oder multilaterale Kooperationsprogramme wie das von Deutschland initiierte „European Sky Shield“ für eine gemeinsame Luftverteidigung. Dies alles sind wichtige Schritte, die wir flankieren sollten, etwa durch die weitere Stärkung europäischer Beschaffungsstrukturen. Ich bin außerdem sehr froh, dass bei FCAS, dem zentralen System für die Luftüberlegenheit der Zukunft, die zwischenzeitlichen Blockaden nun ausgeräumt sind. Dieses Projekt steht wie kein zweites für die Ambition einer zukunftsorientierten europäischen Verteidigung! Wir bei HENSOLDT haben seit jeher den Anspruch, europäische Kooperation aktiv zu gestalten. Aktuell intensivieren wir die Zusammenarbeit mit unserem Ankeraktionär LEONARDO aus Italien und verstehen dieses Bündnis auch als mögliche Keimzelle einer breiteren europäischen Partnerschaft.
HENSOLDT hat das Ziel ausgegeben, sich zum größten plattformunabhängigen Sensoranbieter in Europa zu entwickeln. Wo stehen Sie auf diesem Weg?
Wir halten auch bei der Realisierung unserer Strategie Wort und setzen um, was wir unseren Anteilseignern angekündigt haben. Drei Jahre nach unserem Börsengang können wir heute sagen: Wir haben alle Versprechen eingelöst und manche Ziele deutlich schneller als geplant erreicht. Beim Umsatz sind wir doppelt so schnell gewachsen wie der Gesamtmarkt für Rüstungselektronik, unseren Auftragsbestand haben wir mehr als verdoppelt und unsere Präsenz in wichtigen internationalen Märkten ausgebaut. Vor allem aber haben wir unseren Fokus auf Technologie und Innovation weiter verstärkt und erheblich in Forschung und Entwicklung investiert. Dass HENSOLDT heute als starkes Unternehmen kraftvoll vorwärtsgeht, ist nicht allein für uns eine gute Nachricht. Schließlich entwickeln wir erfolgskritische Komponenten für die Verteidigungssysteme der Zukunft. Das können Sie auch an der zentralen Rolle von HENSOLDT in den nationalen und europäischen Schlüsselprojekten wie FCAS, MGCS, der Eurodrohne und PEGASUS sehen.
Was verändert sich für HENSOLDT durch die neue geopolitische Realität?
Mit der veränderten Weltlage liegt eine neue Ära vor der Verteidigungsindustrie. Sie bringt neue Erwartungen an uns mit sich, und wir sind dafür bereit. Die Zeitenwende zeigt, dass wir den richtigen strategischen Kurs eingeschlagen haben. Unsere Entwicklung zum Lösungsanbieter für ganzheitliche Informationsüberlegenheit nach dem Plug-and-Play-Prinzip werden wir weiter beschleunigen. Dass wir dafür unser Portfolio an den entscheidenden Stellen ausgebaut haben, hat sich auch im Krieg in der Ukraine bestätigt: Die weitere Digitalisierung der Sensorik, die Fusion von Sensordaten, die Datenanalyse, Cybersicherheit und fortschreitende Integration Künstlicher Intelligenz sind dabei unsere Schwerpunkte. Genauso wichtig ist mir aber, dass HENSOLDT ein fokussierter Pure-Play-Anbieter von Sensorlösungen geblieben ist und dies auch in Zukunft sein wird. Denn damit haben wir eine starke, langfristige Wachstumsplattform geschaffen. Mit dem Ziel, ein möglichst umfassendes Lagebild zu schaffen, gewinnt die Vernetzung von Plattformen auch über Domänengrenzen hinweg weiter an Fahrt. Verteidigungselektronik wird dadurch in den wachsenden Rüstungsbudgets eine noch größere Rolle spielen.
In der öffentlichen Wahrnehmung überlagert der Krieg andere drängende Themen wie Nachhaltigkeit. Ist die grüne Transformation der Verteidigungsindustrie vom Tisch?
Das wäre fatal. Wir dürfen beim Klimaschutz nicht nachlassen. Als Verteidigungsindustrie schaffen wir mit Sicherheit eine Grundvoraussetzung für Nachhaltigkeit und müssen umgekehrt Nachhaltigkeit als elementaren Baustein der Sicherheitsvorsorge verstehen. Mit dieser Haltung sind wir als HENSOLDT nicht allein: Neben der NATO rücken auch viele unserer Kunden diesen Zweiklang ins Zentrum. Der Anspruch von HENSOLDT ist es, auch bei der Nachhaltigkeit in unserer Branche neue Maßstäbe zu setzen. Wir sehen ESG als wichtigen Faktor für unseren geschäftlichen Erfolg. So achten wir bereits heute darauf, dass unsere Produkte möglichst kompakt, leicht und energiesparend sind. Das wird künftig immer mehr zum Wettbewerbsfaktor. Mit unserer ESG-Strategie haben wir auch unseren eigenen CO2-Fußabdruck analysiert und klare Zwischenziele definiert, um bis spätestens 2035 kohlenstoffneutral zu werden. Das erreichen wir mit Hartnäckigkeit und vielen großen und kleinen Maßnahmen, beispielsweise an unseren Standorten. In Kiel sparen wir künftig bis zu 40 Tonnen CO2 jährlich durch Stromversorgung über Fotovoltaik und Wasserstoff. In Oberkochen wird unser neues Gebäude für HENSOLDT Optronics mit einem intelligenten Energiekonzept einen Autarkiegrad von mehr als 70 Prozent erreichen. Dass unsere vielfältigen Initiativen zu messbaren Ergebnissen führen, zeigt auch das jüngste ESG-Rating durch Sustainalytics. HENSOLDT ist dort erneut als einziges Unternehmen der Luftfahrt- und Verteidigungsindustrie mit „geringem Risiko“ gelistet und damit führend. Unsere sehr gute Bewertung aus dem Vorjahr haben wir noch einmal verbessert. Sie sehen also: HENSOLDT geht konsequent seinen Weg.
Thomas Müller leitet die heutige HENSOLDT AG seit Januar 2015 als Geschäftsführer und seit dem Börsengang im September 2020 als Vorstandsvorsitzender. Zuvor war er Geschäftsführer der Airbus DS Electronics and Border Security GmbH, nachdem er zahlreiche Leitungsfunktionen im heutigen Airbus-Konzern innegehabt hatte, etwa für den Bereich Rüstungselektronik in der Airbus Defence and Space Division und bei der ehemaligen, auf militärische und zivile Raumfahrtsysteme spezialisierten Tochtergesellschaft Astrium Satellites. Er begann seine Karriere 1978 bei der Bundeswehr, die er 1991 als Hauptmann verließ. Thomas Müller absolvierte ein Studium der Volks- und Betriebswirtschaftslehre an der Universität der Bundeswehr.