Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat tiefgreifende geopolitische Auswirkungen und damit auch den Handlungskontext für HENSOLDT im Verteidigungssektor erheblich verändert. Die deutsche Zeitenwende, das Erstarken der Europäischen Union als Akteur der Sicherheitsvorsorge und die Revitalisierung der NATO stehen dabei im Mittelpunkt.
HENSOLDT-CEO Thomas Müller zur neuen Konfliktordnung, der veränderten Rolle der Verteidigungsindustrie und warum HENSOLDT vorbereitet ist, Verantwortung zu übernehmen.
Herr Müller, welche Folgen hat der Krieg Russlands gegen die Ukraine auf die globale Sicherheitsordnung? Wie bewerten Sie die aktuelle geopolitische Lage?
Der russische Krieg bedeutet ganz klar einen Epochenwechsel. Er hat fundamentale und langfristige Auswirkungen auf die weltweite Sicherheitsarchitektur, da Russland unmissverständlich die Systemfrage gestellt hat. Es geht akuter denn je darum, welche Regeln in Zukunft für den Umgang von Staaten untereinander gelten – das Recht des Stärkeren oder die Stärke des Rechts. Das ist der Kern der systemischen Konkurrenz, die wir immer deutlicher sehen zwischen den liberalen Demokratien auf der einen Seite sowie autoritären und diktatorischen Regimen. Gerade das Streben Chinas, eine Supermacht zu werden, destabilisiert die globale Ordnung erheblich. Ich teile deshalb die Einschätzung vieler Experten, dass wir absehbar auf eine anhaltende, diffuse Konfliktordnung zusteuern, in der selbst dann, wenn die Waffen schweigen, kein wirklicher Frieden herrscht. Wir sind also auf absehbare Zeit in unserer Wachsamkeit gefordert wie selten zuvor.
Wo sind derzeit die größten Brennpunkte außerhalb der Ukraine?
Natürlich blickt die Welt vor allem nach Taiwan und das Südchinesische Meer. Auch wenn sich die Befürchtungen einer unmittelbaren Eskalation nicht bewahrheitet haben, ändert das nichts an der Tatsache, dass China seine Interessen sehr langfristig verfolgt und das Verhältnis zu China die zentrale geopolitische Machtfrage ist. Daneben erleben wir sehr unmittelbare, greifbare Folgewirkungen des Kriegs gegen die Ukraine, wenn die empfundene russische Schwäche Konflikte in früheren Einflussgebieten aufflammen lässt wie etwa in Kasachstan oder zwischen Kirgistan und Tadschikistan. Oder wenn energiepolitisch starke Staaten wie Aserbaidschan ihre neue Einflussmacht ausnutzen, um Druck auszuüben. Aber auch direkt vor unserer Haustür birgt der Krieg enormes Konfliktpotenzial für unsere westlichen Demokratien, wenn die Energiekrise, die Inflation und damit die Frage nach dem künftigen Lebensstandard die Unzufriedenheit mit demokratischen Institutionen weiter befeuern und möglicherweise extremistische Parteien bis in die Regierungsverantwortung bringen. Das Ausmaß an Instabilität, mit dem wir es derzeit global zu tun haben, ist enorm. Und da sprechen wir noch gar nicht von den vielen asymmetrischen Konflikten, die in den vergangenen Jahren vor allem in Afrika und im Nahen Osten entstanden sind und natürlich nicht enden, nur weil neue, größere Krisen im öffentlichen Fokus stehen.
Was sind die militärischen und technologischen Lehren aus dem Krieg gegen die Ukraine?
Häufig wird dieser brutale Überfall als eine Renaissance des konventionellen Kriegs beschrieben. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Es kommen in der Ukraine tatsächlich überholt geglaubte klassische Kriegsmethoden zum Einsatz. Vor allem aber zeigt sich die enorme Bedeutung von digitalisierten Waffensystemen, von datengetriebener Informationsüberlegenheit und elektronischer Kampfführung. Denn mit diesen modernen Technologien kann sich die Ukraine gegen einen rein zahlenmäßig überlegenen Gegner erfolgreich zur Wehr setzen. Auf der anderen Seite finden auch Angriffe auf kritische zivile Infrastrukturen und gesellschaftliches Vertrauen immer mehr im digitalen Raum statt – durch Cyberattacken und Desinformationskampagnen.
Wie sollte der Westen künftig auf die neue geopolitische Realität reagieren?
Geschlossenheit und Entschlossenheit sind weiterhin das Gebot der Stunde. Wie eng die westliche Staatengemeinschaft seit dem 24. Februar 2022 zusammengestanden ist, hat viele überrascht. Das muss uns auch dann gelingen, wenn der Preis des Kriegs für uns selbst immer spürbarer wird – so hart das ist. Russland führt einen Angriffskrieg mit atomarer Drohkulisse und darf damit keinen Erfolg haben. Auch deshalb liegt die Unterstützung der Ukraine in unserem ureigenen Interesse und bedeutet eine große Verantwortung für Deutschland und Europa. Wir bei HENSOLDT leisten mit unseren Hochleistungsradaren für die Luftverteidigung und Artilleriedetektion der Ukraine einen Beitrag. Ein zweiter zentraler Aspekt ist gerade für uns in Europa, weiteren Fortschritt bei der Zusammenarbeit im Verteidigungssektor zu erreichen, auf politischer und industrieller Ebene. Denn mit dem Krieg ist Sicherheit wieder zur zentralen Staatsaufgabe geworden. Dieser Aufgabe können wir nur im Schulterschluss als ein starkes Europa gerecht werden. Und wir müssen drittens Verteidigung und Sicherheit umfassender denken, als wir es in der Vergangenheit gewohnt waren. Heute geht es um gesamthafte Resilienz, von militärischer Verteidigung bis zur Frage, wie robust das digitale Kassensystem im Supermarkt ist. Für unsere Widerstandsfähigkeit als Volkswirtschaft gilt es, Lieferketten auf den Prüfstand zu stellen. Schließlich hat sich mit dem Krieg Russlands auch die Hoffnung erledigt, wirtschaftliche Abhängigkeiten könnten Konflikte verhindern. Heute sehen wir, wie sich China immer stärker abschottet. Umso konsequenter müssen wir als Europa an unserer technologischen Souveränität – gerade im digitalen Bereich – arbeiten.
Was bedeutet dieser Dreiklang für die deutsche Außen- und Verteidigungspolitik?
Elementar ist, dass sich auch hierzulande immer mehr durchsetzt, was unsere Partner schon viel selbstverständlicher voraussetzen: Nämlich die Erkenntnis, dass Deutschland eine natürliche Führungsrolle in Europa zufällt – allein schon durch unsere geografische Lage, Bevölkerungsgröße und Wirtschaftskraft. Diese Aufgabe müssen wir annehmen und aktiv wahrnehmen als ein Stabilitätsanker, der Verantwortung in Europa übernimmt. Dabei sollten wir unser Gewicht vor allem als vereinender Akteur nutzen für gemeinsame Positionen in der EU, aber auch mit den USA. Und wir sollten ehrlich zu uns selbst sein und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, was den Umgang mit autoritären Staaten und unserer eigenen Verteidigungsfähigkeit betrifft. Die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen, können wir uns nicht mehr erlauben.
Wie erleben Sie als CEO eines führenden Technologieunternehmens die sicherheitspolitische Zeitenwende? Welches Zwischenfazit ziehen Sie nach einem Jahr?
Das Sondervermögen Bundeswehr ist ein wichtiger Schritt, um kritische Lücken zu füllen und gerade für große Innovationsprojekte Planungssicherheit zu schaffen. Wir sollten diesen Schritt auch nicht kleinreden. Gleichzeitig müssen den Worten natürlich weitere Taten folgen: Es braucht eine nachhaltige Erhöhung des Verteidigungshaushalts, um die Bundeswehr zu einer zukunftsfähigen Armee zu entwickeln. Ansonsten ist das Sondervermögen schnell verpufft. In der Umsetzung bedeutet die Zeitenwende einen gemeinsamen Kraftakt, denn glaubhafte militärische Abschreckung beruht auf drei Säulen: dem politischen Willen, gut ausgerüsteten Streitkräften und einer leistungsfähigen Verteidigungsindustrie. HENSOLDT als Technologieführer und strategischer Partner der Bundesregierung ist exzellent vorbereitet, seinen Beitrag zu leisten. Wir sind in den vergangenen Jahren massiv gewachsen, haben unser Team und internationales Produktionsnetzwerk ausgebaut und können heute entscheidend unterstützen. Mir ist es ein Anliegen, dass die Zeitenwende die Fähigkeitsentwicklung und industrielle Basis in Deutschland und Europa stärkt. Dafür müssen wir gemeinsam mit der Politik Sorge tragen, denn naturgemäß haben auch Wettbewerber aus anderen Regionen Europa als Markt neu entdeckt.
Was sind die Voraussetzungen dafür, dass dieser Kraftakt zu einer nachhaltigen Zeitenwende führt?
Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass letztlich die Glaubwürdigkeit Deutschlands und das Vertrauen unserer Partner in uns auf dem Spiel stehen. Und um es klar zu sagen: Auch wir als Industrie werden zu Recht am Erfolg des Sondervermögens gemessen. Gleichzeitig ist bekannt, dass die Beschaffungsprozesse für die Bundeswehr endlich vereinfacht und beschleunigt werden müssen. Was hier möglich ist, haben wir bei der Lieferung unseres deutschen Luftverteidigungssystems in die Ukraine gesehen, als Politik und Industrie in Rekordtempo Vollzug melden konnten. Außerdem brauchen wir viel innovationsfreundlichere Prozesse. Bisher beinhalten viele Ausschreibungen zum Beispiel für den Cyberbereich unnötig enge technologische Vorgaben von politischer Seite, anstatt das Ziel vorzugeben und dem technologischen Pioniergeist Freiraum zu bieten. Über Prozesse und Strukturen lässt sich also schon viel bewegen. Ein Punkt ist für mich aber entscheidend: Dauerhaft gelingen kann die Zeitenwende nur, wenn sie von einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz getragen wird. Neben der Zeitenwende brauchen wir für die Verteidigung auch eine Mentalitätswende. Wir müssen endlich einen ehrlichen Diskurs darüber führen, welche Erwartungen wir an die Bundeswehr stellen und welchen Preis wir dafür als Gesellschaft zu zahlen bereit sind. Das sind wir den Menschen schuldig, die für uns ihr Leben riskieren. An diesem Punkt sind wir aber noch nicht. Wir diskutieren sehr intensiv Panzerlieferungen an die Ukraine, um eine wirkliche Verständigung zur Rolle unserer eigenen Armee machen wir bisher aber einen Bogen.
Und was hat die Industrie zu einer erfolgreichen Zeitenwende beizutragen?
Es liegt auch an uns, ob diese Debatte in der Gesellschaft stattfindet. In der Vergangenheit waren wir zu zurückhaltend, unseren Beitrag für Sicherheit und den Schutz von Demokratie und Freiheit zu erklären. Das ändern wir, beispielsweise mit einer Social-Media-Kampagne, in der regelmäßig unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Wort kommen und darüber sprechen, warum ihre Arbeit den Unterschied für eine sichere Zukunft ausmacht. Und natürlich muss die Verteidigungsindustrie als verlässlicher Partner zuverlässig abliefern. Wir bei HENSOLDT haben bewiesen, dass wir anspruchsvolle Großprojekte diszipliniert managen und zum vereinbarten Termin, Budget und Qualitätsstand umsetzen. Dieser starke Umsetzungsfokus hängt auch mit unserer Geschichte und Aufstellung zusammen. Auf dem Weg in die Eigenständigkeit von HENSOLDT hat die Zusammenarbeit mit KKR als Finanzinvestor unsere unternehmerische Entwicklung enorm professionell vorangetrieben. Heute ist die Verbindung aus den Beteiligungen der Bundesregierung und unternehmerischer Investoren ein Erfolgsmodell.
Wie blicken Sie auf die erste Nationale Sicherheitsstrategie mit der Erwartung einer neuen, verantwortungsvollen Rolle Deutschlands in der Welt?
Es ist ohne Zweifel wichtig, über die unmittelbaren Reaktionen auf den Ukrainekrieg hinaus eine langfristige Strategie zu definieren. Dass dies in dieser Form zum ersten Mal geschieht, spricht für sich und dokumentiert den neuen Stellenwert von Sicherheit und Verteidigung in der deutschen Politik. Ob es dazu führt, dass wir uns als Gesellschaft ernsthaft mit diesen Grundsatzfragen auseinandersetzen, bleibt abzuwarten. Auch die vorausgegangenen Weißbücher haben viele richtige und wichtige Aspekte adressiert, sind aber in dieser Hinsicht weitgehend folgenlos geblieben.
Die NATO hat ihre neue Strategie bereits im Sommer 2022 formuliert: Ist sie zurück im Modus des Kalten Kriegs?
Dieser Blick in den Rückspiegel verkennt die Tragweite der heutigen Herausforderungen. Zwar ist die Bündnisverteidigung wieder Primärzweck der NATO, aber das Krisenmanagement durch Out-of-Area-Einsätze gewinnt weiter an Relevanz. Schließlich wird der systemische Konflikt zwischen dem Westen sowie China und Russland global ausgetragen und findet auch abseits der Bündnisgrenzen statt. Nicht umsonst beschreibt das neue strategische Konzept eine fundamentale Neuausrichtung und Transformation der NATO. Neben der immer entscheidenderen Cyberresilienz steht die Verteidigung des technologischen Vorsprungs in sieben disruptiven Technologien im Fokus – vom Quantencomputing über hypersonische Bedrohungen bis zur weltraumgestützten Kriegsführung. Auch die Auswirkungen des Klimawandels auf die Sicherheitsvorsorge und umgekehrt zählen jetzt zu den Kernaufgaben der NATO. Sie ist wieder voll gefordert und dabei immer nur so stark, wie ihre Mitgliedstaaten sie machen. Der geplante Beitritt Schwedens und Finnlands ist auch deswegen historisch, weil er beide Seiten stärkt.
Welcher Platz bleibt da noch für Europa als sicherheitspolitischen Akteur?
Ich sehe hier keinen Zielkonflikt – im Gegenteil: Das Strategische Konzept sieht eine starke europäische Säule in der NATO vor. Und ich bin überzeugt davon, dass die transatlantische Zusammenarbeit nur dann stabil funktioniert, wenn Europa in den USA nicht als sicherheitspolitischer Kostgänger wahrgenommen werden kann. Die EU muss ihre Sicherheit stärker in die eigene Hand nehmen. Die USA werden sich absehbar mehr auf die indopazifische Region konzentrieren und niemand weiß, was die US-Präsidentschaftswahl 2024 bedeuten wird. Auch deshalb darf strategische Autonomie für uns keine Absichtserklärung bleiben. Und Europa geht in die richtige Richtung: Auf die russische Aggression hat die EU schnell reagiert, starke Sanktionen auf den Weg gebracht und die Ukraine militärisch unterstützt. Mit dem Strategischen Kompass haben wir seit März 2022 erstmals ein sicherheitspolitisches Grundlagendokument, das von allen EU-Staaten angenommen wurde und eine gemeinsame Vision und klare Ziele enthält. Das ist ein großer Schritt für mehr Verbindlichkeit und Handlungsfähigkeit. Dieses Momentum für eine europäische Sicherheitsarchitektur muss jetzt genutzt werden! Politisch muss die deutsch-französische Partnerschaft der starke Motor bleiben. Und wir müssen den europäischen Gedanken auch auf der technologischen Ebene umsetzen – durch koordinierte Beschaffung und Entwicklung, aber auch durch harmonisierte Exportkontrollvorschriften.
Ist schnelle Handlungsfähigkeit heute nicht wichtiger als europäische Kooperation?
Wir müssen beide Ziele erreichen und dürfen sie nicht gegeneinander ausspielen. Schnelle Handlungsfähigkeit folgt europäischer Kooperation unmittelbar. Es wäre extrem kurzsichtig, wenn es durch den aktuellen Handlungsdruck zum Rückfall in einzelstaatliche Egoismen käme. Heute gilt mehr als je zuvor, dass kein EU-Staat in der Lage ist, alle Fähigkeiten für die multiplen Herausforderungen und Szenarien vorzuhalten. Technologische Souveränität und Interoperabilität erreichen wir nur gemeinsam und nicht, wenn jeder für sich handelt und außereuropäisch aus dem Regal kauft. Europäische Kooperation gibt uns auch die Stärke, bei unseren nationalen Schlüsseltechnologien die besten Ergebnisse aus den Fähigkeiten aller Partner herauszuholen. Und natürlich geht es auch um die Verschwendung von Geld. In Zeiten großer volkswirtschaftlicher Belastungen können wir es uns nicht erlauben, weniger als zehn Prozent unserer Investitionen in Rüstung gemeinsam europäisch zu beschaffen.
Wie kann eine engere europäische Kooperation im Verteidigungssektor gelingen?
Auch hier stimmt mich der Strategische Kompass optimistisch. Wir haben gerade im vergangenen Jahr eine Reihe weiterer Entwicklungen gesehen, die in die richtige Richtung weisen, wie etwa die „Joint Defence Procurement Task Force“ als EU-Initiative oder multilaterale Kooperationsprogramme wie das von Deutschland initiierte „European Sky Shield“ für eine gemeinsame Luftverteidigung. Dies alles sind wichtige Schritte, die wir flankieren sollten, etwa durch die weitere Stärkung europäischer Beschaffungsstrukturen. Ich bin außerdem sehr froh, dass bei FCAS, dem zentralen System für die Luftüberlegenheit der Zukunft, die zwischenzeitlichen Blockaden nun ausgeräumt sind. Dieses Projekt steht wie kein zweites für die Ambition einer zukunftsorientierten europäischen Verteidigung! Wir bei HENSOLDT haben seit jeher den Anspruch, europäische Kooperation aktiv zu gestalten. Aktuell intensivieren wir die Zusammenarbeit mit unserem Ankeraktionär LEONARDO aus Italien und verstehen dieses Bündnis auch als mögliche Keimzelle einer breiteren europäischen Partnerschaft.
HENSOLDT hat das Ziel ausgegeben, sich zum größten plattformunabhängigen Sensoranbieter in Europa zu entwickeln. Wo stehen Sie auf diesem Weg?
Wir halten auch bei der Realisierung unserer Strategie Wort und setzen um, was wir unseren Anteilseignern angekündigt haben. Drei Jahre nach unserem Börsengang können wir heute sagen: Wir haben alle Versprechen eingelöst und manche Ziele deutlich schneller als geplant erreicht. Beim Umsatz sind wir doppelt so schnell gewachsen wie der Gesamtmarkt für Rüstungselektronik, unseren Auftragsbestand haben wir mehr als verdoppelt und unsere Präsenz in wichtigen internationalen Märkten ausgebaut. Vor allem aber haben wir unseren Fokus auf Technologie und Innovation weiter verstärkt und erheblich in Forschung und Entwicklung investiert. Dass HENSOLDT heute als starkes Unternehmen kraftvoll vorwärtsgeht, ist nicht allein für uns eine gute Nachricht. Schließlich entwickeln wir erfolgskritische Komponenten für die Verteidigungssysteme der Zukunft. Das können Sie auch an der zentralen Rolle von HENSOLDT in den nationalen und europäischen Schlüsselprojekten wie FCAS, MGCS, der Eurodrohne und PEGASUS sehen.
Was verändert sich für HENSOLDT durch die neue geopolitische Realität?
Mit der veränderten Weltlage liegt eine neue Ära vor der Verteidigungsindustrie. Sie bringt neue Erwartungen an uns mit sich, und wir sind dafür bereit. Die Zeitenwende zeigt, dass wir den richtigen strategischen Kurs eingeschlagen haben. Unsere Entwicklung zum Lösungsanbieter für ganzheitliche Informationsüberlegenheit nach dem Plug-and-Play-Prinzip werden wir weiter beschleunigen. Dass wir dafür unser Portfolio an den entscheidenden Stellen ausgebaut haben, hat sich auch im Krieg in der Ukraine bestätigt: Die weitere Digitalisierung der Sensorik, die Fusion von Sensordaten, die Datenanalyse, Cybersicherheit und fortschreitende Integration Künstlicher Intelligenz sind dabei unsere Schwerpunkte. Genauso wichtig ist mir aber, dass HENSOLDT ein fokussierter Pure-Play-Anbieter von Sensorlösungen geblieben ist und dies auch in Zukunft sein wird. Denn damit haben wir eine starke, langfristige Wachstumsplattform geschaffen. Mit dem Ziel, ein möglichst umfassendes Lagebild zu schaffen, gewinnt die Vernetzung von Plattformen auch über Domänengrenzen hinweg weiter an Fahrt. Verteidigungselektronik wird dadurch in den wachsenden Rüstungsbudgets eine noch größere Rolle spielen.
In der öffentlichen Wahrnehmung überlagert der Krieg andere drängende Themen wie Nachhaltigkeit. Ist die grüne Transformation der Verteidigungsindustrie vom Tisch?
Das wäre fatal. Wir dürfen beim Klimaschutz nicht nachlassen. Als Verteidigungsindustrie schaffen wir mit Sicherheit eine Grundvoraussetzung für Nachhaltigkeit und müssen umgekehrt Nachhaltigkeit als elementaren Baustein der Sicherheitsvorsorge verstehen. Mit dieser Haltung sind wir als HENSOLDT nicht allein: Neben der NATO rücken auch viele unserer Kunden diesen Zweiklang ins Zentrum. Der Anspruch von HENSOLDT ist es, auch bei der Nachhaltigkeit in unserer Branche neue Maßstäbe zu setzen. Wir sehen ESG als wichtigen Faktor für unseren geschäftlichen Erfolg. So achten wir bereits heute darauf, dass unsere Produkte möglichst kompakt, leicht und energiesparend sind. Das wird künftig immer mehr zum Wettbewerbsfaktor. Mit unserer ESG-Strategie haben wir auch unseren eigenen CO2-Fußabdruck analysiert und klare Zwischenziele definiert, um bis spätestens 2035 kohlenstoffneutral zu werden. Das erreichen wir mit Hartnäckigkeit und vielen großen und kleinen Maßnahmen, beispielsweise an unseren Standorten. In Kiel sparen wir künftig bis zu 40 Tonnen CO2 jährlich durch Stromversorgung über Fotovoltaik und Wasserstoff. In Oberkochen wird unser neues Gebäude für HENSOLDT Optronics mit einem intelligenten Energiekonzept einen Autarkiegrad von mehr als 70 Prozent erreichen. Dass unsere vielfältigen Initiativen zu messbaren Ergebnissen führen, zeigt auch das jüngste ESG-Rating durch Sustainalytics. HENSOLDT ist dort erneut als einziges Unternehmen der Luftfahrt- und Verteidigungsindustrie mit „geringem Risiko“ gelistet und damit führend. Unsere sehr gute Bewertung aus dem Vorjahr haben wir noch einmal verbessert. Sie sehen also: HENSOLDT geht konsequent seinen Weg.
Moderne Sensorik und Optronik sind hochdigitalisierte Systeme. Für ihre Leistungsfähigkeit spielt Künstliche Intelligenz eine immer wichtigere Rolle. Das Ergebnis: überlegenes Situationsbewusstsein. Bereits heute forschen HENSOLDT und 21strategies, ein auf besonders anspruchsvolle KI-Anwendungen spezialisiertes Unternehmen, gemeinsam an der nächsten Generation von Künstlicher Intelligenz für Verteidigungsanwendungen – die sogenannte Dritte Welle.
Celia Pelaz, Chief Strategy Officer und Mitglied des HENSOLDT-Vorstands, und Yvonne Hofstetter, Co-Gründerin und Chief Executive Officer von 21strategies, zu Potenzialen und Grenzen Künstlicher Intelligenz, der digitalen Souveränität Europas und kooperativer Innovation im Verteidigungssektor.
Frau Hofstetter, Sie entwickeln KI für Investmentfonds, für die Absicherung von Wechselkurs- und Rohstoffrisiken – und für militärische Anwendungen: Wie kommt es zu diesem ungewöhnlichen Portfolio?
Yvonne Hofstetter: In allen genannten Fällen ist der Mensch einer komplexen dynamischen Umgebung ausgesetzt, auch wenn Entscheidungen an den Finanz- und Rohstoffmärkten in ihrer Tragweite nicht mit denen in der Verteidigung zu vergleichen sind. In Echtzeit ist der Mensch gefordert, auf Basis mehrdeutiger Information in einem hochvolatilen Umfeld Abwägungen unter Unsicherheit zu treffen. KI der nächsten Generation gibt ihm hier mehr Sicherheit. Bei Systemen der Verteidigung sind damit ernste gesellschaftliche, rechtliche und ethische Fragestellungen verbunden. Im Verteidigungssektor liegen unsere Wurzeln, zu denen wir mit der Gründung von „21strategies“ zurückgekehrt sind. Denn unsere frühen KI-Technologien haben wir in den militärischen Forschungslabors der späten 90er Jahre entwickelt.
Frau Pelaz, inwiefern kommt KI bei HENSOLDT heute schon zum Einsatz?
Celia Pelaz: Mit Technologien, die heute unter diesem Begriff zusammengefasst werden, befassen wir uns seit vielen Jahren – auch schon zu der Zeit, als HENSOLDT noch gar kein eigenständiges Unternehmen war. Mit KI können wir uns im Wettbewerb nicht mehr nur darüber differenzieren, wie gut eine Sensorlösung eine Situation wahrnimmt. Heute differenzieren wir uns zunehmend darüber, wie intelligent der Sensor das Wahrgenommene verarbeitet, es interpretiert, analysiert und bei all dem aus Daten Informationen aufbauen kann.
Und was bedeutet das konkret?
Celia Pelaz: KI hilft einem Radar oder einer Optronik zunächst einmal dabei, die Detektionsleistung zu erhöhen, wenn zum Beispiel die Bildstabilität zu wünschen übriglässt. Dann unterstützt KI bei der Aufgabe, Objekte korrekt zu klassifizieren, beispielsweise als Vogel oder aber als Drohne, und sie entsprechend nachzuverfolgen. Auf der nächsten Ebene werden die Objektdaten und das Kontextwissen über KI so miteinander verbunden, dass aus ihnen taktisch relevante Informationen entstehen, etwa ob es sich um eine feindliche Plattform handelt. Hier ist KI auch bei der sogenannten Multi-Sensor-Datenfusion wichtig – wenn es darum geht, Daten aus immer mehr Sensorquellen, die über vernetzte Plattformen verteilt sind, zusammenzuführen und zu analysieren. Das gilt auch immer stärker für öffentlich zugängliche Daten aus dem Internet, die sogenannte Open Source Intelligence. Aus all dem entsteht ein umfassendes, konsistentes und aktuelles Lagebild. KI entlastet also den Soldaten, sie unterstützt ihn mit Handlungsoptionen, um richtig entscheiden zu können. Und KI ermöglicht Systemen wie Radaren oder Störsendern, selbst zu lernen und sich an unbekannte Situationen anzupassen. Dann sprechen wir von kognitiven Systemen.
Blicken wir auf die Verteidigungsindustrie insgesamt. Welche Rolle spielt KI für die Sicherheit von morgen?
Celia Pelaz: Eine ganz zentrale. Die Fähigkeit, sich aus Daten relevante Information zu erarbeiten, entscheidet immer stärker mit, ob ich im Konflikt unter- oder überlegen bin. Da geht es um eine winzige Nadel in einem riesigen Heuhaufen. Moderne Verteidigungsanwendungen produzieren derart viele Daten, dass wir sehr schnell bei einer Überforderung des Menschen sind. In der öffentlichen Debatte diskutieren wir oft über KI als mögliche Fehlerquelle. In Wirklichkeit ist die Fehlerquote von KI, insbesondere bei Routineaufgaben, niedriger als die des Menschen. KI wird immer performanter. Sie wird daher auf immer mehr Ebenen von Waffensystemen relevant. Bei HENSOLDT haben wir vor kurzem unsere Kompetenzen in einem zentralen AI-Hub gebündelt, um die Expertise aus den verschiedenen Domänen und Projekten enger zu verzahnen. Und wir erleichtern so die Zusammenarbeit mit Partnern, denn KI ist auch ein Motor für mehr Kooperation: Es gibt viele sehr interessante Player mit oft stark spezialisiertem Know‑how. Das Potenzial, das für unsere Industrie in KI steckt, ist also enorm. Umso mehr plädiere ich für einen realistischen, verantwortungsvollen KI-Diskurs. Manches, was hierzu im Markt suggeriert wird, ist mir zu sehr Hype statt seriöser Innovation.
Inwiefern?
Celia Pelaz: Den Eindruck zu erwecken, KI sei die Lösung aller Probleme, geht schlicht an der Realität vorbei. Auch die Dynamik, die wir im Bereich Deep Learning und neuronale Netze sehen, befreit uns nicht von der Aufgabe, auch andere, innovative Kerntechnologien für die Verteidigung von Sicherheit und Freiheit zu entwickeln und zu finanzieren. Realistisch ist KI ein wichtiger Hebel, um für Verteidigungssysteme ein höheres Performancelevel zu erreichen. Aber die technologische Grundlage, wie wir sie beispielsweise mit führenden Sensorik- und Optroniklösungen legen, bleibt essenziell.
Yvonne Hofstetter: Das kann ich nur unterstreichen. KI ist nichts weiter als ein Werkzeugkasten von mathematischen Theorien und Informationstechniken. Und vor allem gibt es nicht die eine „Künstliche Intelligenz“: Je nachdem, vor welcher Problemstellung ich stehe, muss ich bestimmte Techniken aus diesem Werkzeugkasten auswählen und für den jeweiligen Zweck einsetzen. Machine Learning etwa ist nur in bestimmten Fällen die beste Lösung. Für viele Probleme, insbesondere alle, bei denen man gar nichts schätzen muss, eignen sich direkte Berechnungen viel besser, sind viel genauer und vor allem nachvollziehbar.
Celia Pelaz: Und genau deswegen müssen wir als Anbieter von Verteidigungslösungen auch die gesamte Bandbreite der KI beherrschen, sei es über eigene Fähigkeiten oder Partnerschaften. Die Basis ist immer unser Anwendungs-Know‑how, also die tiefe Kenntnis der Einsatzerfordernisse und Doktrinen unserer Kunden.
HENSOLDT und „21strategies“ forschen gemeinsam an KI der dritten Welle. Was ist das?
Yvonne Hofstetter: Die dritte Welle der KI dreht sich unter anderem um das Training maschinellen taktischen Verhaltens. Statt Massendaten, wie sie etwa von Radaren erzeugt werden, nur zu verarbeiten, wählt eine Maschine aus einer Vielzahl möglicher Optionen die Entscheidung aus, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Bekannt sind solche Maschinen bereits von ganz woanders: aus der Gaming-Community. Dort haben intelligente Maschinen die Aufgabe, Menschen bei Spielen wie Starcraft zu besiegen. Gefechtsfelder sind viel komplexer als das komplizierteste Spiel. In unserem gemeinsamen Projekt „GhostPlay“ untersuchen wir, welche Taktiken intelligente Maschinen im Gefechtsfeld entwickeln und was menschliche Soldaten daraus lernen können. Dazu modellieren wir einen digitalen Zwilling von Gefechtsfeld und verfügbarer Sensorik und Effektorik mit ihren physikalischen Eigenschaften. Diese Modelle präsentieren wir dann dem Tech-Stack und lassen KI gegen KI antreten. Ein Beispiel sind sogenannte SEAD-Missionen mit dem Ziel, Luftabwehrsysteme auszuschalten. Hier beobachten wir, wie KI das taktische Zusammenspiel der einzelnen Bestandteile des Verteidigungssystems steuert und auf der anderen Seite den Sensor-Effektor-Verbund des angreifenden Schwarms unbemannter Systeme leitet.
Celia Pelaz: Für HENSOLDT ist die frühe und ergebnisoffene Auseinandersetzung mit solchen KI-basierten Entscheidungsverfahren eine logische Konsequenz. Denn wir entwickeln längst nicht mehr nur die fünf Sinne, sondern immer mehr auch das zentrale Nervensystem von Verteidigungsanwendungen. Mit Edge-Computing rückt die datengetriebene Intelligenz noch näher an die Sensorik und ist bereits oft in sie eingebettet. Über integrierte Systeme äußere Eindrücke wahrzunehmen, zu verarbeiten und in Reaktionen umzuwandeln, ist heute unser Kerngeschäft.
Gerade die Autonomie löst in der Bevölkerung große Vorbehalte gegen KI aus.
Celia Pelaz: Wir müssen die Diskussion auch in diese Richtung sachlich und differenziert führen. Die oft gegen KI ins Feld geführten „Killer Robots“ haben mit der Realität wenig zu tun. Die erste Frage, die man sich hier stellen muss, ist im Grunde banal: Sprechen wir wirklich über autonome oder doch vom Menschen ferngesteuerte Systeme? Oder von KI, die primär Daten verarbeitet, fusioniert und analysiert? Wenn wir uns mit Autonomie im engeren Sinn beschäftigen, ist die entscheidende Frage die nach dem – wie wir es nennen – „System of Interest“: Was ist die Intention hinter der Handlung? Wie funktioniert das System, das ich mit KI aufwerten will? In welcher Situation und in welchem Kontext? Basierend darauf sollten wir definieren, was KI darf und was nicht. Bei kritischen Anwendungen hat immer das Prinzip des „Human-in-the-loop“ zu gelten. Der Mensch bleibt also in der Verantwortung und entscheidet final; die KI unterstützt.
Yvonne Hofstetter: Genauso wenig, wie per se ethisch gehandelt wird, sobald der Mensch im Spiel ist, genauso wenig ist Technik per se unethisch. Denn Werte lassen sich durchaus in Technik integrieren. Die Frage ist nur, wie und welche Werte wir priorisieren und in Systemfunktionen übersetzen. „GhostPlay“ geht hier einen wichtigen Schritt. Es ist das erste für den militärischen Nutzer ausgelegte KI-System in Deutschland, das dem neuen Standard für wertebasierte Technik1 folgt.
Was leistet dieser Standard konkret?
Yvonne Hofstetter: Er beschreibt Prozessschritte und Prüfkriterien für die Entwicklung wertegeleiteter Technologie – ohne selbst einen bestimmten Wertekanon vorzugeben. An KI wurden bereits viele rechtliche und ethische Forderungen gestellt, beispielsweise von der NATO oder der EU. Doch wie komme ich von diesen ungenauen Ansprüchen zu einer Technik, die Werte umsetzt? An dieser Stelle setzt der Ende 2021 eingeführte Standard IEEE 7000TM‑2021 vom Weltdachverband der Elektroingenieure an. Er ist der erste Standard, der zwar Technik anspricht, aber Ethik fordert. Zum ersten Mal sind Techniker aufgerufen, einem Standard zu folgen, um Werte in Technik zu übersetzen. Dafür führt der IEEE 7000TM‑2021 sogar einen neuen Berufsstand ein, die sogenannten „Value Leads“. Sie sind in Ethik ausgebildet und müssen ein „System of Interest“ durch den standardisierten Prozess schleusen, es an ethischen Kriterien messen und für entsprechende technische Vorkehrungen sorgen. Die ISO-Normung hat sich dem bereits angeschlossen. Auch deshalb halte ich es für elementar wichtig, dass sich Techunternehmen hier Know‑how aufbauen.
Celia Pelaz: Ich sehe darin gerade für uns Europäer eine große Chance. Wir erfahren im Energiesektor aktuell sehr schmerzhaft, was es heißt, in geopolitisch fatale Abhängigkeiten zu geraten. Wir müssen alles tun, damit wir im Techbereich nicht eine ähnliche Entwicklung erleben. Ein zentraler Schlüssel dafür ist gesellschaftliche Akzeptanz. Und die erreichen wir nur, wenn wir transparent darlegen können, wie wir unseren moralischen Kompass in unseren Technologien verankern. Rein technologisch stehen wir nämlich als Europa im globalen Wettbewerb in vielen Bereichen richtig gut da, auch bei KI. Nur stoßen wir häufig auf gesellschaftliche Vorbehalte, die Innovation hemmen und dazu führen, dass Technologien reguliert werden, bevor sie überhaupt entwickelt sind. Letztlich geht es doch um die Frage, ob es uns gelingt, eine souveräne digitale Infrastruktur in Europa zu etablieren.
Was braucht es noch für ein digital souveränes Europa?
Yvonne Hofstetter: Zunächst einmal den politischen Willen. Europa hat in diesem Jahrtausend auf digitale Souveränität geflissentlich verzichtet und es sich als Trittbrettfahrer des Silicon Valley bequem gemacht. Wir haben die Amerikaner machen lassen, mit den Algorithmen auch ihre Werte importiert und es in vielen Bereichen versäumt, eigene Fähigkeiten aufzubauen oder beizubehalten. Beispielsweise bei Suchmaschinen-Algorithmik oder Cloud-Infrastrukturen halte ich es inzwischen für unrealistisch, dass Europa in absehbarer Zeit auf Augenhöhe kommen kann. Wir müssen unsere Lücke bei anderen Themen finden. Aus meiner Sicht sind wir in Europa zum Beispiel bei der Entwicklung von Konzepten stark. Also bei komplexen digitalen Lösungen, die gezielt auf die besonderen Anforderungen und Bedürfnisse eines bestimmten Sektors oder Anwendungsbereichs wie der Verteidigung ausgelegt sind. Da sind wir auch in unserer Haltung weiter als viele IT-Unternehmen aus dem Silicon Valley, die allein auf das Wissen aus Daten vertrauen und meinen, es bräuchte damit keine Experten mehr.
Celia Pelaz: Wir müssen selbstbewusst und entschlossen definieren, welche Fähigkeiten wir in Europa unbedingt selbst beherrschen wollen und müssen. Das ist der zentrale erste Schritt. Vielleicht können wir als Europa nicht überall digitale Souveränität erreichen, aber es kann nicht sein, dass wir in Kernbereichen von anderen abhängig sind. Weil wir gar nicht genau wissen, was wir da als Blackbox einkaufen, oder ob wir es morgen überhaupt noch bekommen. Genau deshalb müssen wir zum Beispiel KI für unsere Verteidigung in Europa selbst entwickeln. Sie ist eine Schlüsseltechnologie für die digitale Souveränität Europas und wir müssen sicherstellen, dass sie unseren Werten entspricht und damit gesellschaftliche Akzeptanz findet. Dazu braucht es auch Umsetzungsstärke – sonst bleiben Konzepte am Ende lediglich Konzepte. Wir brauchen ein starkes Innovationsökosystem, gerade im Verteidigungssektor.
Was sind die Herausforderungen für einen innovativen Verteidigungssektor? Wie könnte sich ein solches Innovationsökosystem aus etablierten Playern und Start-ups besser entwickeln?
Yvonne Hofstetter: Das ist nicht nur, aber auch eine Frage des Geldes. In den vergangenen Jahren hat der deutsche Rüstungssektor unter Imageproblemen gelitten. Gelder wurden nicht in den Fähigkeitsaufbau der Bundeswehr investiert, sondern als Friedensdividende an die Gesellschaft ausgereicht. Doch je kleiner das Verteidigungsbudget, desto mehr sichern die wenigen Industrieteilnehmer dieses Budget gegen direkte Konkurrenz. Heute sind wir mit einem in weiten Teilen geschlossenen Sektor konfrontiert, in dem neue Player kaum Fuß fassen. Damit bestehen auch für Forschungsinstitute, von denen viele hervorragende Arbeit leisten, kaum Anreize für Ausgründungen. Innovationen bleiben so als Studien in den Instituten stecken und transformieren sich nicht zum Produkt, so dass einige Forschungsinvestitionen nicht wirklich effektiv angelegt sind.
Celia Pelaz: Neben der finanziellen Ausstattung können wir auch viel über die Veränderung von Prozessen bewegen, gerade in der Beschaffung. Deutlich schnellere und einfachere Beschaffungszyklen würden nicht nur dafür sorgen, dass Innovationen schneller zum Kunden kommen. So verhindern wir auch, dass Start-ups mitunter jahrelang durchhalten müssen, bis sich ihre Arbeit wirtschaftlich auszahlen kann, und sie vorher womöglich von Bürokratie erdrückt werden. In unserer Branche wird der öffentliche Auftraggeber immer der wichtigste Kunde sein. Insofern bleiben mit der Ungewissheit, ob es zur Beauftragung durch die öffentliche Hand kommt, Investitionen in disruptive Technologien für junge Unternehmen immer ein Glücksspiel. Public-Private-Partnerships sind hier der richtige Weg für Planungssicherheit und Innovationsanreize. Ohne die NASA würde es SpaceX gar nicht geben! Von solchen Beispielen können wir beim Blick über unseren Tellerrand viel lernen.
Wo sehen Sie da Vorbilder?
Yvonne Hofstetter: Wenn es darum geht, Brücken in die Start-up-Welt zu bauen, halte ich das Konzept der DARPA als Behörde des US-Verteidigungsministeriums für sehr interessant. Sie vergibt Aufträge allein nach technologischer Innovationskraft ohne Ansehen der Person. Wenn etwas technologisch bahnbrechend ist, dann kann ein Auftrag auch an ein Ein-Mann-Unternehmen gehen. Das funktioniert seit Jahrzehnten sehr erfolgreich.
Celia Pelaz: Mit dem DIANA-Accelerator hat hier vor kurzem auch die NATO das richtige Signal gesetzt, das Gleiche gilt auf anderer Ebene für das „Cyber Innovation Hub“ der Bundeswehr. Wie innovationsstark ein enger Schulterschluss zwischen Militär, Gesellschaft und Verteidigungsindustrie werden kann, zeigt das Beispiel Israel. Dort war jeder Industrievertreter, ob Start-up oder Großkonzern, in seiner Jugend im Militär. Man kennt und versteht sich und bekämpft gemeinsam eine Bedrohung, vor der die Bevölkerung nicht die Augen verschließt. In den USA sehen wir, dass Innovation auch davon lebt, einen riesigen Markt über einen einzigen Ansprechpartner erschließen zu können. In Europa ist heute oft noch das Gegenteil der Fall. Das müssen wir ändern. Mehr europäische Kooperation in Politik und Industrie bedeutet mehr technologischen Fortschritt und mehr Sicherheit!
1ISO/IEC/IEEE 24748-7000:2022.
HENSOLDT steht seit seiner Gründung für einen dynamischen Wachstumskurs. Mit Auftragsbestand, Umsatz und Ergebnis ist in den vergangenen Jahren auch die Belegschaft und das internationale Produktionsnetzwerk in neue Größendimensionen vorgedrungen. Nun sind mit der neuen sicherheitspolitischen Lage in Europa und der deutschen Zeitwende neue Anforderungen und Erwartungen an die Verteidigungsindustrie gerichtet. Gleichzeitig gehören vermehrte gesamtwirtschaftliche Risiken genauso zur neuen Realität wie der verschärfte Wettbewerb um die Talente von morgen.
Finanzvorstand Christian Ladurner und Personalvorstand Lars Immisch über das intelligente, vorausschauende Management von Wachstum und zur Frage, was es dafür braucht.
Herr Ladurner, Sie kennen das Unternehmen länger, als es die Marke gibt: Was macht HENSOLDT für Sie aus?
In meiner Zeit als Offizier waren der Zusammenhalt und das Gemeinschaftsgefühl in der Bundeswehr die prägendste Erfahrung für mich. Dieser unbedingte Teamgedanke, Dinge gemeinsam zu erreichen und eng zusammenzustehen, wenn Herausforderungen unüberwindbar erscheinen. Ihn habe ich bei HENSOLDT wiedergefunden, in einer fast familiären Atmosphäre, die sich das Unternehmen bewahrt hat, als es stark gewachsen und immer internationaler geworden ist. So eine Unternehmenskultur muss man auch vorleben, und gerade als Vorstand verstehe ich das als eine meiner wichtigsten Aufgaben.
Was hat sich für Sie persönlich mit Ihrem Wechsel in den Vorstand geändert?
Die Bandbreite an Themen ist noch einmal viel größer geworden und gleichzeitig die Fokussierung auf den konkreten Entscheidungsbedarf. Für mich steht nun im Mittelpunkt, wie wir im Vorstand das Unternehmen strategisch in die Zukunft führen. Zu sehen, wie gut das, was lange mein Job war, jetzt von anderen geleistet wird, hat es mir sehr leicht gemacht, auch vieles loszulassen. Dafür investiere ich heute deutlich mehr Zeit in Kommunikation – mit Investoren, Analysten und Journalisten, aber gerade auch im Unternehmen mit unserem Finanzteam. Unsere Projektteams nah am Produkt in der Entwicklung oder Fertigung leben eine unheimlich starke Gruppendynamik und berechtigten Stolz auf das gemeinsam Erreichte vor. Genauso wollen wir für unsere Experten aus Accounting, Treasury, Investor Relations und IT noch stärker einen gemeinsamen Heimathafen in ihrem Nahbereich schaffen. Das ist auch für unsere Leistungsfähigkeit als Finanzteam wichtig. Denn vor uns liegen große Aufgaben.
Stichwort große Aufgaben: Wie bereiten Sie als CFO HENSOLDT auf die Zeitenwende vor?
Wir können bereits heute, bevor die konkreten Auswirkungen der Zeitenwende klar sind, absehen, dass wir in den kommenden Jahren nachhaltig wachsen werden. Die Zeitenwende wird in diese Richtung zusätzliche Impulse setzen, aber die Basis haben wir mit den vielen langfristigen, mehrjährigen Projekten gelegt, für die HENSOLDT beauftragt wurde. Das sind gleichzeitig das Ergebnis und der Anfang harter Arbeit. Denn Wachstum muss gemanagt und klug gestaltet werden. Wir wollen mit unserem Geschäft nicht einfach nur größer werden, sondern noch kundenfokussierter, leistungsfähiger, schneller und effizienter. Es geht darum, sich in der Wertschöpfung weiter zu verbessern und mehr Wert zu generieren. Als Finanzressort haben wir dafür starke Hebel.
Welche Hebel sind Ihnen besonders wichtig?
Erstens ist es unsere Aufgabe, den wirtschaftlichen Freiraum für unsere Strategie zu schaffen und Innovation finanziell zu ermöglichen. Innovation ist seit jeher das zentrale Asset unserer Firma, ausschlaggebend für den Erfolg bei unseren Kunden und werttreibend am Kapitalmarkt. Zweitens sind wir mit unserem ganzheitlichen Blick auf das Unternehmen auch ein Treiber effizienter, von Anfang bis Ende stringenter Prozesse. Mit dem Programm HENSOLDT GO! für operative Exzellenz haben wir diese „End-to-end“-Prozesse in den vergangenen Jahren vorangetrieben und werden sie 2023 auch global ausrollen. Der Fokus auf Prozesse begleitet uns langfristig, um intelligent wachsen und divisions- sowie länderübergreifend integrierte Lösungen anbieten zu können. Und drittens verstehe ich die Finanz als Katalysator für die digitale Transformation des Unternehmens. Wir wollen jederzeit zu jedem Thema datenbasierte Entscheidungen treffen können. Dazu arbeiten wir intensiv an unserer Daten-Governance und Systemlandschaft mit dem Ziel, HENSOLDT in ein Echtzeit-Unternehmen zu transformieren. Alle diese Aufgaben bekommen durch die Zeitenwende ein Ausrufezeichen mehr. Sie ist damit auch ein Beschleuniger für das Finanzwesen der Zukunft.
Wodurch zeichnet sich diese Finanzorganisation der Zukunft aus?
Wir werden Schritt für Schritt zum Navigator und Möglichmacher für das Unternehmen. Vor 20 Jahren stand für die Finanz noch sehr stark das Reporting, also der Rückblick, im Vordergrund. Heute blicken wir viel stärker auch in die Zukunft und leisten einen strategischen Beitrag. Dazu brauchen wir leistungsfähige Instrumente und neue Kompetenzen. Wir müssen also auch uns selbst transformieren und haben dazu das Programm „Vision Finance“ auf drei Säulen aufgesetzt: datengetriebene finanzielle Unternehmenssteuerung, Hochleistungsorganisation Finance-Community und Talententwicklung.
Sie haben Ihr Amt in einer Zeit großer volkswirtschaftlicher Risiken angetreten, von Inflation bis zur Energie- und Lieferkettenkrise. Wie wappnet sich HENSOLDT gegen diese Risikolage?
Wir leben ohne Frage in Zeiten hoher Unsicherheit. Als HENSOLDT sind wir durch unser langfristiges Projektgeschäft, in dem meist ein Ausgleich von Preissteigerungen vertraglich vereinbart ist, ein Stück weit weniger als andere von Inflation betroffen und dadurch robuster. Aber natürlich müssen auch wir wachsam sein und vorausschauend handeln. Unsere Refinanzierung haben wir zu attraktiven Konditionen langfristig abgesichert. In den Lieferketten treffen wir dort frühzeitig Vorkehrungen, wo wir mögliche Verwerfungen sehen. So ist es uns gelungen, die Herausforderungen gut im Griff zu behalten und mit einer überschaubaren Risikolage ins Jahr 2023 zu starten. Dabei gilt die Devise, dass wir in volatilen Zeiten noch näher an unserem Geschäft und Umfeld sein müssen. Deshalb stellen wir mit „Vision Finance“ auch zu operativen, nichtfinanziellen Kennzahlen durchgängige Transparenz her, etwa zur Teileverfügbarkeit, Liefertreue oder Einhaltung von technischen Meilensteinen. Denn als Unternehmen geht es uns wie unseren Kunden: Wenn ich ein klares Lagebild habe, bin ich handlungsfähig.
Planen Sie als Antwort auf die Zeitenwende weitere Akquisitionen, um den Markt zu bedienen?
Unsere Philosophie hat sich durch die Zeitenwende nicht verändert. Wir werden auch weiterhin Optionen für gezielte Zukäufe prüfen. Das ist für uns aber immer an sehr klare Kriterien geknüpft: Nur wenn die Akquisition eindeutig werterhöhend ist und der Partner sowohl technologisch und unternehmerisch als auch in seiner geografischen Präsenz zu uns passt, werden wir aktiv. Daneben schauen wir uns auch regelmäßig mögliche strategische Beteiligungen für Technologiepartnerschaften an. In Innovationsfeldern, die wie Künstliche Intelligenz immer relevanter für uns werden, gibt es viele Start-ups und junge Unternehmen mit einer starken Tech-Expertise. Sie brauchen häufig einen finanziellen Anschub und profitieren von der Kooperation mit einem etablierten Technologieunternehmen, sind aber auf große Freiheiten in ihrem Unternehmertum angewiesen. In diesen Fällen können strategische Beteiligungen eine Win-win-Lösung sein, um vielversprechende Technologien gemeinsam voranzubringen.
Wie blickt der internationale Kapitalmarkt auf Deutschland und die Zeitenwende?
Ich hatte in den vergangenen Monaten die Chance, viele Gespräche mit Investoren und Analysten zu führen, zuletzt war ich dafür in Großbritannien und in den USA unterwegs. Gerade die außereuropäischen Marktteilnehmer verfolgen sehr genau, ob Deutschland Wort hält und die Ankündigungen auch verlässlich umsetzen wird. Man merkt sehr deutlich, dass hier die zurückhaltende, zögerliche Rolle Deutschlands über die vergangenen Jahrzehnte im Bereich Sicherheit und Verteidigung Spuren hinterlassen hat. Dabei sind generalistische Analysten, die sich noch nicht intensiver mit Verteidigung beschäftigt haben, deutlich ungeduldiger und stellen nachvollziehbar viel schneller die Vertrauensfrage. Andere, die unseren Sektor gut kennen, wissen, dass es nach einer politischen Absichtserklärung sehr lange dauern kann, bis es zur Auftragsvergabe kommt. Und dass es Teil unserer unternehmerischen Expertise ist, dieses Geschäft mit langen Vorlaufzeiten optimal zu gestalten, um im richtigen Moment mit dem richtigen Produkt bereit zu sein.
Und wie erleben Sie die Sicht des Kapitalmarkts auf HENSOLDT? Steckt hinter dem deutlichen Kursanstieg in 2022 der Ruf der Verteidigungsindustrie als sicherer Hafen in Krisen – oder mehr?
Die zentrale Währung am Kapitalmarkt ist Vertrauen. Deshalb wird hier honoriert, dass HENSOLDT zuverlässig umsetzt, was wir versprechen. Das gilt für unsere Unternehmensstrategie genauso wie für die mittelfristigen Planungen, wie wir sie beispielsweise bei unserem Börsengang angekündigt und dann konsequent abgeliefert haben. Und das gilt für die Tatsache, dass wir unseren Rekord-Auftragsbestand diszipliniert in hochprofitables Ergebnis überführen, weil wir Großprojekte strukturiert abarbeiten und im vereinbarten Zeit-, Budget- und Qualitätsrahmen zum Kunden bringen. HENSOLDT ist ein verlässlicher Partner für Kunden und Investoren: Für uns ist es absolut zentral, diesem Status auch in der Zeitenwende zu 100 Prozent gerecht zu werden. Denn auch in der Bewertung unseres Unternehmens zeigt sich, dass seit dem 24. Februar 2022 der Stellenwert von Sicherheit und Verteidigung für unsere Gesellschaft deutlich gestiegen ist. Dazu zählt ebenfalls, dass der Anteil von Investoren mit einem klaren ESG-Fokus an unserem Freefloat von etwa 6 Prozent Ende 2021 auf jetzt über 20 Prozent gewachsen ist. Am Kapitalmarkt wird also verstärkt gewürdigt, dass Sicherheit die Grundvoraussetzung für Nachhaltigkeit ist. Der Blick auf unsere Branche und unser Unternehmen hat sich weiterentwickelt. Auch diesen Vertrauensvorschuss wollen wir bestätigen und zeigen, dass wir noch mehr können.
Normalerweise formuliert der Kapitalmarkt Erwartungen an Unternehmen. Einmal andersherum gedacht: Was wünschen Sie sich für Ihre Zusammenarbeit mit Investoren und Analysten?
Der Dialog mit Investoren und Analysten ist für mich ein ganz wichtiges Element unseres Frühwarnsystems und setzt oft wertvolle Reizpunkte für unsere Diskussion im Vorstand. Deshalb freut es mich sehr, dass der Kapitalmarkt HENSOLDT zunehmend aufmerksamer verfolgt. Ich möchte diesen Austausch nicht nur pflegen, sondern auch intensivieren und noch enger gestalten. Wir haben uns vorgenommen, dafür mehr Plattformen entweder selbst zu schaffen oder zu besuchen. Das gilt vor allem auch für den Dialog mit internationalen Ansprechpartnern, nachdem der europäische Verteidigungssektor weltweit wesentlich stärker in den Fokus gerückt ist. Diese Chance wollen wir nutzen, um unseren Plan für intelligentes Wachstum zu erklären und weiter Vertrauen zu schaffen.
Herr Immisch, Sie sind seit Oktober 2022 Personalvorstand bei HENSOLDT. Was hat Sie bei Ihrem Start am meisten überrascht?
Eindeutig der ganz eigene Spirit! Die starke Kultur und Identifikation der Mitarbeiter spürt man sofort. Das ist erstaunlich für ein junges Unternehmen, das aus traditionsreichen Vorgängerorganisationen hervorgegangen ist. Dass die HENSOLDTianer gerne hier arbeiten, zeigt auch das „Most Wanted Employer“-Ranking für 2022 von der ZEIT und dem Arbeitgeber-Bewertungsportal Kununu: Wir liegen auf Platz zwei im gesamten Elektroniksektor! Jetzt geht HENSOLDT von einer Art Start-up-Phase in eine Etappe über, in der wir das Unternehmen der Zukunft gestalten, um weiter Wachstum und hohe Ambitionen zu realisieren. Ich freue mich sehr darauf, diese kontinuierliche Veränderung mitzugestalten.
Was bedeutet die Zeitenwende für Sie als Personalvorstand? Müssen Sie in Zeiten des Fachkräftemangels die Belegschaft massiv ausbauen?
Durch das Wachstum der vergangenen Jahre sind wir bereits in einer guten Position, um mehr Verantwortung zu übernehmen. Wir werden uns auch in Zukunft weiter verstärken, gehen dabei aber verantwortungsvoll mit Augenmaß vor. Denn rasantes Wachstum müssen Sie auch auf der Personalseite vernünftig verarbeiten, um gut zusammenarbeiten zu können. Und natürlich müssen wir erst einmal abschätzen können, welche konkreten Anforderungen und Aufträge sich aus der Zeitenwende ergeben. Das ist etwas anderes als eine politische Absichtserklärung. Stellenweise gehen wir auch in Vorleistung, etwa mit der Entscheidung, eine signifikante Tranche unseres Hochleistungsradars TRML‑4D für die Luftverteidigung zu fertigen, um Lieferzeiten möglichst kurz zu halten. Dafür holen wir in der Fertigung unmittelbar neue Mitarbeiter an Bord. Vor allem aber liegt unsere Aufgabe in absehbarer Zeit darin, sehr genau zu beobachten, wie sich unser Personalbedarf verändern könnte. Das ist nicht allein eine quantitative Frage, sondern eine der richtigen Qualifikationsstruktur. Denn natürlich geht es für uns primär darum, gezielt an den richtigen Stellen die richtigen Kompetenzen aufzubauen. Zusammen mit fokussierten Strukturen und Prozessen ist das der Schlüssel, um in Zeiten steigender Kosten effizient zu wirtschaften und nachhaltig zu wachsen.
Welche Talente hat HENSOLDT vor allem im Visier? Und wie macht sich der Fachkräftemangel bemerkbar?
Auch wenn HENSOLDT sehr gut positioniert ist, spüren natürlich auch wir, dass es in vielen Bereichen einfach zu wenige Bewerber gibt, gerade bei den top ausgebildeten Spezialisten in den Hochtechnologieberufen. Wir stellen heute immer stärker im IT-Bereich ein und stehen damit nicht nur innerhalb unserer eigenen Industrie im Wettbewerb, sondern etwa auch mit E‑Commerce-Anbietern und vielen anderen Branchen. Umso entscheidender ist strategisches Kompetenzmanagement für uns. Wir müssen immer besser antizipieren können, welche Profile und Qualifikationen wir in Zukunft benötigen. Das gilt für mehrere Jahre im Voraus und genauso für die mittelfristige Perspektive. Denn wenn ich beginne, die benötigten Mitarbeiter zu rekrutieren, sobald wir das Großprojekt gesichert haben, ist es viel zu spät. Da müssen wir immer früher dran sein und dazu sehr genau verstehen, wie sich der geopolitische Kontext, die technologischen Trends und die Bedürfnisse unserer Kunden entwickeln. Das ist eine anspruchsvolle, aber entscheidende Aufgabe, um Topleute mit den Technologieprofilen zu gewinnen, die für uns im Fokus stehen: Systemingenieure, Softwareentwickler und IT-Fachkräfte. Außerdem stellen wir vermehrt Experten für Programm- und Projektmanagement ein, da die Umsetzung komplexer Großprojekte unser Geschäft immer stärker prägt. Bei allen diesen Qualifikationen gilt in gewisser Weise das Bonmot „Der Kampf um Talente ist vorbei. Gewonnen haben die Talente“.
Und was ist angesichts dieser neuen Ausgangslage auf dem Arbeitsmarkt zu tun?
Selbstverständlich müssen wir uns in allen Bereichen so aufstellen, dass unser Anspruch erfüllt ist, Arbeitgeber der Wahl zu sein. Aber speziell für die Verteidigungsindustrie gilt auch, dass wir mehr darüber sprechen müssen, was wir tun und warum wir es tun. Heute sehen wir eine deutlich größere Offenheit in der Gesellschaft, unseren Beitrag zur Verteidigung von Demokratie und Freiheit zu würdigen. In dieser Debatte müssen wir uns aber auch dann engagieren, wenn der Krieg in Europa hoffentlich bald beendet ist und sich die gesellschaftliche Wahrnehmung womöglich wieder ändert. Außerdem kommen mir in der Diskussion um den Fachkräftemangel zwei Aspekte viel zu kurz: Zum einen haben wir die Aufgabe und Chance, jungen Menschen über eine fundierte Ausbildung zu helfen, zu den Talenten von morgen heranzuwachsen. Deshalb haben wir unser Engagement in der Ausbildung und im dualen Studium noch einmal deutlich ausgebaut und gestalten Studiengänge wie „Embedded Systems“ konzeptionell mit, um Jugendliche wieder stärker für Technik zu begeistern. Zum anderen ist mir die Weiterentwicklung unserer eigenen Talente, die wir bereits an Bord haben, enorm wichtig. Gerade in unserer Branche mit langen Projektlaufzeiten einerseits und kurzen Innovationszyklen andererseits ist die Balance aus Erfahrung und jungen, frischen Impulsen essenziell.
Welche Auswirkungen hat der Krieg in der Ukraine auf das Recruiting von HENSOLDT?
Das veränderte Bewusstsein für Verteidigung zeigt sich auch im Bewerbermarkt deutlich. Gleichzeitig hat sich mit der Zeitenwende der Wettbewerb unserer Branche um die besten Köpfe weiter verstärkt. Es gilt deshalb mehr denn je: Wir müssen zu den Talenten gehen und näher bei den Menschen sein. Das beginnt mit so einfachen Dingen, dass wir auf Plattformen wie LinkedIn stärker den Dialog von Mensch zu Mensch führen, um mehr Einblicke zu geben, welche Persönlichkeiten bei uns arbeiten. Das schließt aber auch weitreichendere Themen ein: Sollten wir für bestimmte Tätigkeiten und Profile anbieten, komplett im Homeoffice arbeiten zu können? Brauchen wir Hubs in Regionen mit starken Talentpools? Können wir uns über Partnerschaften besonders begehrte Qualifikationen sichern? Auf diese Fragen müssen wir Antworten finden.
Womit punktet HENSOLDT bei Mitarbeitern und Bewerbern? Was sind die stärksten Faktoren?
Viele unserer Mitarbeiter und Bewerber motiviert vor allem, einen greifbaren Beitrag zur Verteidigung von Frieden und Freiheit zu leisten. Sie entwickeln die bestmögliche Ausstattung für Menschen, die für unsere Gesellschaftsform ihr Leben riskieren. Daneben geht es ganz stark auch um die Faszination von Hochtechnologie. Bei HENSOLDT können Mitarbeiter Fortschritt in Spezialgebieten mitgestalten, die in wenigen anderen Branchen erreichbar sind – von der Sensordatenfusion bis zur Raumfahrt. Auch die persönliche Sicherheit, die ein Arbeitsplatz in einer vergleichsweise krisenresistenten Branche bietet, zählt wieder viel stärker. Umgekehrt erfüllen wir als Branchenführer beim Thema Nachhaltigkeit eine Basisanforderung, um die Bewerber von HENSOLDT zu überzeugen, die wir wollen. Mein Vorgänger Peter Fieser hat mit dem Team eine fundierte ESG-Strategie aufgesetzt, die wir konsequent umsetzen. Wir verfolgen damit ambitionierte Ziele wie etwa CO2-Neutralität bis 2035, die ein hartes Stück Arbeit sind und signifikante Investitionen erfordern. Aber das ist auch aus HR-Sicht sehr gut angelegtes Geld.
Und wo setzen Sie an, um HENSOLDT als attraktiven Arbeitgeber weiterzuentwickeln?
Wir werden zum einen weiter an unserer großen Stärke arbeiten, der Unternehmenskultur. Das ist für jede Firma eine erfolgsentscheidende Daueraufgabe, gerade in Wachstumsorganisationen. Mir geht es darum, dass wir das, was uns leitet und prägt, sehr verständlich übersetzen und in jeden Winkel des Unternehmens tragen. Gerade auch in die internationalen Tochtergesellschaften, die in den vergangenen Jahren durch Akquisitionen zur HENSOLDT-Familie dazugestoßen sind. Diesen Kulturprozess werden wir bestimmt nicht von oben verordnen und in PowerPoint-Folien definieren, aber wir können und müssen die richtigen Plattformen für die Mitarbeiter schaffen. Damit sind wir bei einem zweiten Punkt, der Führungskultur: Viele Externe denken bei der Verteidigungsindustrie immer noch an „Befehl und Gehorsam“. Das trifft bei HENSOLDT nicht die Realität. Wenn Mitarbeiter mit ihrer Idee, dass sich unsere Technologien auch für den Schutz von Wildtieren eignen könnten, zum Vorstand gehen, ist das ein schöner Beleg. Aber auch hier können wir nicht einfach einen Haken dran machen, sondern müssen permanent eine inklusive Führungskultur der offenen Türen vorantreiben. Teams erwarten zu Recht und immer stärker Transparenz, Teilhabe und Flexibilität. Damit gehen neue Führungsaufgaben einher, zumal wenn wir remote zusammenarbeiten. Diese kulturellen Fragen führen unmittelbar zu zwei sehr greifbaren weiteren Fokusthemen, an denen wir arbeiten.
Welche sind das?
Einmal geht es um die neue Arbeitswelt, für die wir nach der Coronapandemie branchenübergreifend noch lange nicht alle Antworten gefunden haben. Bei HENSOLDT gilt eine 50-Prozent-Regelung für hybrides Arbeiten zwischen Büro und Homeoffice. Das funktioniert sehr gut, aber langfristig geht es eher um die Frage, für welche Tätigkeiten ein Team gemeinsam vor Ort arbeiten muss. Dann müssen wir verstehen, wie die Zusammenarbeit und die kommunikativen Arbeitsplätze der Zukunft aussehen, die den Gegebenheiten unseres Geschäfts und den Bedürfnissen der Mitarbeiter gerecht werden. In Oberkochen, wo wir bis 2025 unseren neuen Hochtechnologie-Campus einweihen, wird sich diese kulturelle Transformation architektonisch als eine Art Leuchtturm zeigen. Bei alldem denken wir besonders auch an diejenigen Mitarbeiter, die nicht ins Homeoffice gehen können, weil sie an klassifizierten Projekten oder in der Radarfertigung arbeiten. Beim zweiten Thema, Diversität, ist das Zielbild einfacher: Wir müssen, auch in unserer Industrie, als Unternehmen ein Spiegelbild der Gesellschaft sein. Zum Anteil von Frauen in Führungsteams haben wir bei HENSOLDT klare Zwischenziele, die den Weg weisen, und ich bin sehr froh über die starken Vorbilder in unseren Reihen. In der Breite haben wir als Technologieunternehmen unter anderem mit dem zu geringen Anteil von Absolventinnen für technische Berufe zu kämpfen. Das ist kein Argument, die Hände in den Schoß zu legen, im Gegenteil: Wir werden unseren Anteil dazu beitragen, dass sich das ändert.
HENSOLDT verbindet hohe Innovationskraft mit einem attraktiven, robusten Geschäftsmodell. 2022 waren die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt von starker Inflationsdynamik, makroökonomischer Volatilität und Verwerfungen in den globalen Lieferketten. In diesem herausfordernden Umfeld hat HENSOLDT seinen erfolgreichen Wachstumskurs fortgesetzt. Das Unternehmen verzeichnete deutliches Umsatz- und Ergebniswachstum bei hoher Profitabilität.
Nachhaltigkeit ist für HENSOLDT nicht nur eine Strategie, sondern insbesondere eine Haltung und Denkweise. Ob bei unseren Produkten, Standorten oder Lieferketten, wie nehmen unsere soziale, gesellschaftliche und ökologische Verantwortung ernst. Sicherheit ist die Grundlage für eine nachhaltige Zukunft und Sicherheit ist der Kern unserer täglichen Arbeit.
Der Nachhaltigkeitsbericht berichtet über Fortschritte und Entwicklungen der ESG-Strategie 2026 und erfasst Nachhaltigkeitsinitiativen sämtlicher Geschäftsbereiche.